Wird unsere Welt immer komplexer?
Drei Experten über die (vermeintliche) Komplexität der modernen Alltagswelt.
Von Silke Stamp am 14. Juni 2017

Unsere Welt erscheint komplex wie nie zuvor. Die Digitalisierung sorgt für eine unübersichtliche Menge an Daten und Informationen, die täglich auf uns einprasselt. Viele Bereiche – ob politische Gesetzgebung oder Technik – werden vermeintlich nur noch von Spezialisten durchschaut. Aber ist unser Leben so komplex geworden, dass wir es wirklich nicht mehr verstehen? Wir haben Experten nach ihrer Meinung gefragt.
Jörg Friedrich
Jörg Friedrich schreibt für verschiedene Medien und Blogs über gesellschaftspolitische und philosophische Themen, darunter Der Freitag, FAZ und die Kolumnisten. Mehr unter www.kritikdervernetztenvernunft.de
„Die Behauptung der zunehmenden Komplexität ist ein Mythos.“
Jörg Friedrich, Naturwissenschaftler und Philosoph: Alles wird immer einfacher. Denken wir nur daran, wie kompliziert es noch vor 20 Jahren war, in einer unbekannten Stadt eine Adresse zu finden. Unpraktische Karten aus Papier, unlesbare Wegweiser an den Straßenrändern, Einbahnstraßen und Baustellen machten das Autofahren zur Hölle. Heute folgen wir entspannt den Anweisungen des Navigationssystems, das jeden Stau und jede Umleitung kennt.
Aber auch in der politischen Welt ist heute alles viel einfacher, man erinnere sich an das Chaos der Weimarer Republik, an die Wirren der 1960er-Jahre. Heute sind wir schon verschreckt, wenn mal eine bisher unbekannte Partei die 5-Prozent-Hürde überspringt. Von APO, Tumulten an den Universitäten, Schlägereien in den Parlamenten gar ist nichts zu hören.
Die Behauptung der zunehmenden Komplexität unserer Gegenwart ist ein Mythos. Der nivellierende, vereinfachende, nachsichtige und verschwommene Blick auf die Vergangenheit, deren Wirrnisse und Unsicherheiten in den langen Linien der Geschichtswissenschaft verdeckt werden, gaukelt uns vor, dass früher alles einfacher war. Auch die Geschwindigkeit der Veränderung nimmt nicht zu, eher leben wir heute in langsamen, ruhigen Zeiten. Gelassenheit ist angeraten, auch wenn es manchmal überraschende Wendungen gibt.
Dr. Marco Wehr
Dr. Marco Wehr ist studierter Physiker, Philosoph und international erfolgreicher Tänzer. In seinen viel beachteten Wissenschaftsbüchern beschäftigt er sich mit Chaostheorie und Komplexitätsforschung. Seine kritischen Essays über die „Mathematisierung der Welt“ wurden 2013 für den Henri-Nannen-Preis nominiert.
„Ohne Kompass durch die Nebel des Informationsuniversums“
Dr. Marco Wehr, Physiker und Philosoph: Wir fühlen uns heute nicht mehr wie von der Sonne der Vernunft beschienene Aufklärer, sondern eher wie verwirrte Steinzeitmenschen, die den rätselhaften Geschehnissen der sie umgebenden Welt keinen Sinn abtrotzen können. Die Steinzeitmenschen ängstigten sich vor der unerklärlichen Natur – Unwettern, Vulkanausbrüchen. Wir irren heute ohne Kompass durch die Nebel eines selbsterschaffenen Informationsuniversums, das mit seiner chaotischen Dynamik gefährliche Konsequenzen für uns haben kann.
Wie konnte es so weit kommen? Dafür gibt es mehrere Gründe: Das fehlerfreie Wechselspiel komplexer Computeralgorithmen lässt sich prinzipiell nicht garantieren. Deshalb kommt es immer wieder zum Crash. Dieses Wissen liegt in den Lehrbüchern der Theoretischen Informatik vergraben. Darüber hinaus gibt es Profiteure, die von der Unübersichtlichkeit profitieren. Man denke nur an Finanzberater seriöser Banken, die absichtlich Produkte verkaufen, die der Kunde nicht versteht, wobei sich in letzter Konsequenz zeigt, dass sie der eigenen Finesse nicht gewachsen sind und deshalb die Bankenkrise mit zu verantworten haben.
Was sollen wir tun? Man muss nicht alles machen, was möglich ist! Da, wo es möglich ist, sollten wir Übersichtlichkeit anstreben. Im Industriedesign heißt die Zauberformel „Einfachheit“: Benutzeroberflächen werden so gestaltet, dass sie die Komplexität für den Anwender auf wesentliche Bestandteile reduzieren. Von diesem Ansatz kann auch die Politik lernen. Eine Demokratie lebt schließlich davon, dass Bürger und Politiker zumindest prinzipiell in der Lage sind, zu verstehen, worüber sie entscheiden.
Klaus Mainzer
Klaus Mainzer ist emeritierter Professor für Philosophie und Wissenschaftstheorie an der TU München. Er beschäftigt sich mit den Grundlagen komplexer Systeme und der Digitalisierung. Zu seinen Publikationen gehören u.a. „Komplexität“ (2008), „The Universe as Automaton. From Simplicity and Symmetry to Complexity“ (2011).
„Den Vereinfachern nicht auf den Leim gehen“
Prof. Dr. Klaus Mainzer, Komplexitätsforscher: Manchen Menschen erscheint die Welt undurchsichtig und „komplex“. Aber das war immer so. Neu ist, dass heute auf der Erde Milliarden von Menschen in komplexen sozialen, wirtschaftlichen und ökologischen Systemen zusammenwachsen. Diese Systeme treten miteinander in Wechselwirkung – was globale Ordnungen, aber auch Chaos und Turbulenzen erzeugt. Die Gesetze dieser dynamischen Prozesse – von komplexen Systemen in der Natur bis zu komplexen Systemen in der Gesellschaft – untersuchen wir in der Komplexitätsforschung.
In der Arbeitswelt zeigt sich die zunehmende Komplexität vor allem in der Digitalisierung und Automatisierung. Damit die Beschäftigten mit dem Komplexitätszuwachs Schritt halten können, müssen sie auf die neue Arbeitswelt vorbereitet und qualifiziert werden. Hier sind das Bildungs- und Ausbildungssystem, die Schulen und Hochschulen, aber auch die Gewerkschaften gefragt. Damit wir die zunehmende Komplexität in unserer Lebenswelt bewältigen können, müssen technische Systeme außerdem adaptiver, autonomer und intelligenter werden. Wir brauchen aber auch klare politische und ethische Orientierung, um nicht den „Vereinfachern“ auf den Leim zu gehen und ins Chaos zu folgen.